Liebe Autor*innen,
“Die Wunde der Figur ist der Kern der Geschichte”. Dieser Satz fiel neulich in unserer internen Plotten für Chaoten-WhatsApp-Gruppe. [Danke, Dominik, für den Denkanstoß! :)]
Es entspann sich eine kurze Diskussion darüber, die mich an ein paar handwerkliche Elemente des Figurenbaus hat denken lassen. Diese möchte ich euch in dieser Ausgabe darlegen. Diesmal geht es also um die Themen “Want” und “Need” einer Figur. Vorher jedoch teile ich noch ein wenig Krimi-Wissen mit euch.
Kleiner Reminder: In den vorangegangenen Folgen ging es um Folgendes:
Alte Frau mit Rottweiler: Figurenbau anhand eines Beispiels von Altmeister Stephen King und wie ein “Störer” eine Figur interessant machen kann
Die drei Dimensionen einer Figur: Physignomie, soziale und psychologische Dimension
Von Katzen und Fröschen: Save the cat- und Water the frog-Szene
Bild von Leopictures auf Pixabay
Die “Wunde” der Figur aus Krimisicht
Als Dominik in der Gruppe diesen Satz äußerte – “Die Wunde der Figur ist der Kern der Geschichte” – dachte ich sofort an eine Diskussion, die es im Krimigenre immer wieder einmal gibt: Wie viel Persönliches und Privates über die ermittelnde Figur ist nötig oder sinnvoll?
Schauen wir in die Hochzeit des Krimis – in die ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Autor*innen wie Agatha Christie – stellen wir fest, dass in deren Büchern die Sorgen und Nöte der Protagonist*innen keine Rolle spielen. Wir erfahren über Miss Marple so gut wie nichts Persönliches, und Poirots Kriegstrauma wird zwar erwähnt, spielt jedoch in den Fällen, die er löst, kaum eine Rolle. (Erst die modernen Verfilmungen von Kenneth Branagh ändern das zumindest ansatzweise, womit eigentlich schon klar ist, dass moderne Krimikonsument*innen eine Koppelung von Figurentrauma und Fall durchaus zu schätzen wissen.)
Der klassische amerikanische Kriminalroman auf der anderen Seite liefert uns dann den versehrten, trinkenden, von seiner Freundin gerade verlassenen Helden à la Philip Marlowe oder Sam Spade, doch auch in den Romanen von Chandler oder Hammett spielen die Backstories der Protagonisten eine untergeordnete Rolle. Den amerikanischen Autoren geht es zwar viel mehr um die Darstellung von sozialen und gesellschaftlichen Problemen als den klasssischen englischen Autor*innen, und ihre Protas agieren auch in diesem Setting und sind davon durchaus angegriffen und berührt. Aber sie haben keinen eigenen Anteil daran und schauen von außen auf die Umstände.
Vor allem aber: Sowohl Miss Marple/Hercule Poirot als auch Philip Marlowe/Sam Spade entwickeln sich von Band zu Band nicht weiter, ihr Status Quo bleibt stets erhalten. Ihre “Wunden” finden im Roman nicht statt, bzw. sie sind für die Leserinnen und Leser nicht sichtbar.
Blicken wir hingegen auf spätere Krimireihen, z.B. jene um den Kommissar Wallander von Henning Mankell, dann ändert sich das fundamental: Mankell verknüpft die Fälle seines Ermittlers sehr eng mit seiner persönlichen Entwicklung, z.B. dem Erwachsenwerden seiner Tochter oder dem Tod seines Vaters, zu dem Wallander lange kein gutes Verhältnis hat.
Und auch gleich der erste Fall von Harry Bosch, dem genialen und knorrigen Ermittler eines meiner Lieblingsautoren Michael Connelly, konfrontiert den Protagonisten mit seinem Kindheitstrauma, dem nie aufgeklärten Mord an seiner Mutter, die Prostituierte war.
Diese Art der Koppelung von Protagonisten-Backstory und Fall war lange Zeit das Maß vieler Dinge, auch ging sie einher mit der Vermischung der Subgenres Krimi und Thriller. Der Thriller war ja schon immer das Genre, in dem der Held/die Heldin im Verlaufe der Geschichte selbst in Gefahr geraten musste, da lag es nahe, ihn oder sie auch über die ureigenste “Wunde”, das Trauma in die Geschichte einzuführen. Als ich zu Anfang der 10er Jahre die Figur des Faris Iskander entwickelte, war einer der Sätze, die ich zu hören bekam: Der Protagonist sollte idealerweise persönlich in den Fall involviert sein! Interssanterweise war das genau die Zeit, in der sich Zuschauer*innen zunehmend darüber beschwerten, dass viel zu viel Privates im sonntäglichen Tatort auftauchte. Der Kriminalfall und die Nöte der Betroffenen rückte immer mehr in den Hintergrund hinter die Nöte der Komissare und Kommissarinnen. [Kleiner mikrofeministischer Exkurs: Vor allem bei den Komissarinnen wurde das moniert, so jedenfalls mein Eindruck damals. “Frauenprobleme” sind und waren eben doch immer noch weniger interessant für den geneigten Zuschauer als “Männerprobleme”.]
Das Pendel schlug dann wieder zurück in die andere Richtung, als viele Verlage sich vor ein paar Jahren auf Cozy-Krimis verlegten. Die Kriminalfälle rückten erneut in den Fokus des Erzählens, die “Wunden” der Ermittlerfigur wurde weniger wichtig. Natürlich erscheinen heute Romane der einen wie der anderen Art, als Autor*in sollte man herausfinden, welche Form einem besser liegt, welche zu schreiben einem mehr Spaß macht.
Want und need einer Figur
Was aber nun ist es denn genau, diese “Wunde”, von der wir die ganze Zeit reden?
In “Probe 12”, meinem Science Thriller, in dem es um die Gefahr der Antibiotikaresistenzen geht, droht der Protagonist Tom seine Tochter zu verlieren, weil er selbst sie mit einem multiresistenten Keim angesteckt hat. Seine Tochter trägt das Thema des Thrillers und an ihr wird erzählt, was passieren kann, wenn man sich einen multiresistenten Erreger eingefangen hat. Darüber hinaus jedoch ist Tom noch auf eine andere Weise involviert: Nicht nur droht seine Tochter zu sterben, was für sich genommen als Motivation eigentlich schon gereicht hätte, sondern er ist auch noch schuld daran.
Ein klarer Fall von “Raising the stakes”, die Einsätze für die Figur sind dramatisch erhöht.
Ich erwähne Tom an dieser Stelle, weil ich anhand von ihm gut den Unterschied zwischen seinem Want und seinem Need erklären kann. Sein Want, sein Wunsch oder Hauptziel, ist natürlich, seiner Tochter das Leben zu retten. Erreichen kann er das aber nur, wenn er sein Need akzeptiert: Er muss sich mit einer anderen Figur des Romans zusammentun und den Kampf gegen Antibiotikaresistenzen im Allgemeinen aufnehmen. Zitat aus dramaqueen.info: “Das Need ist der universale, allgemeingültige, archetypische Aspekt einer Geschichte, der das Thema (…) repräsentiert.”
In diesem Zitat steckt aber auch, dass das Need auf einer tieferen, psychologischen Ebene ebenso die innersten Bedürfnisse repräsentiert, die die protagonistische Figur im Verlaufe der Story erkennen muss, um ihr Ziel zu erreichen. Gilt es, ein Trauma zu überwinden wie Harry Bosch oder Faris Iskander? Oder etwas Wesentliches über sich selbst zu begreifen, ohne das ein Scheitern vorprogrammiert ist? In diesem tieferen Sinne ist das Need definiert als inneres Defizit, während das Want auf der Handlungsebene stattfindet und die Geschichte in Gang setzt. Auf Tom bezogen könnte man sagen, er muss sich mit seiner Schuld aussöhnen, sie akzeptieren, um bestehen zu können.
Zurück zu unseren Krimi-Beispielen am Anfang könnte man also sagen: Miss Marple, Poirot, Marlowe und Spade brauchen kein Need. Ihr Want ist ihr Fall und der reicht aus, um ihre Geschichte zu erzählen.
Schreibimpuls
Was hat eure Protagonist*in für ein Want? Was für ein Need? Wie ist beides miteinander verknüpft und treibt es sich gegenseitig voran? (Vielleicht schaut ihr dazu auch noch einmal die Ausgabe an, in der es um handlungs- und charaktergetriebenes Schreiben geht.)
Seminartermine im Real Life!
Wer einmal an einem Schreibseminar mit mir teilnehmen will, das nicht online, sondern analog stattfindet, kann dies in diesem Jahr noch zweimal und zwar in der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel.
Hinaus ins Unbekannte! Werkstatt phantastischer Roman.
Freitag, 04.10. (16:00 Uhr) bis Sonntag, 06.10.2024 (12:30 Uhr)
Lieber Fantasy, Horror oder Sciencefiction?
Das Genre Phantastik ist unglaublich vielseitig. Von hochgradig spannenden Plots bis zu gesellschaftlich brisanten Themen, von Dark Romance bis zu den politischen Stoffen einer Margaret Atwood – es ist alles denkbar und Vieles erlaubt. Darüber hinaus suchen Phantastik-Leserinnen und -Leser ständig nach neuen Stoffen, was das Genre für Verlage nach wie vor attraktiv macht. All das sind Gründe, warum angehende Autorinnen und Autoren gern in der Phantastik debütieren.
In diesem Seminar fragen wir uns, wie man einen phantastischen Roman schreibt – sei es nun das große High-Fantasy-Epos in mehreren Bänden, der Near-Future-Thriller oder gar der gesellschaftskritische Horrorroman. Wie kommt man von der Idee zum Plot, ohne sich in der Story zu verheddern? Steht beim Stoff der Weltenbau im Vordergrund oder geht es doch eher um Figuren, die Leserinnen und Leser mitreißen und mitleiden lassen? Welche Rolle spielen dabei Dialoge und Beschreibungen?
Das Seminar richtet sich an alle, die eine Idee im Kopf haben, jedoch noch nicht genau wissen, wie sie diese Idee zu Papier bringen sollen. Und an alle, die bereits mitten in ihrer Geschichte stecken und Input fürs Vorankommen brauchen.
Wir arbeiten vor allem mit den Texten der Teilnehmer und sehen uns Proben aus Romanen erfolgreicher Autorinnen und Autoren an. Abgerundet wird das Seminar durch Einblicke in den Literaturbetrieb.
Nach dem Anmeldeschluss erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Schreibaufgabe. Mein Co-Dozent ist Klaus N. Frick, der Chefredakteur der Perry-Rhodan-Heftreihe.
Wissenschaft trifft Thriller
Wie der Weg von der Idee zur Story glückt
Das Beste aus zwei Welten.
Spannende Rätsel und wissenschaftliche Geheimnisse – wenn Forschung und Fiktion verschmelzen, entsteht Nervenkitzel. Wie stark uns Wissenschaft im täglichen Leben betrifft, haben nicht zuletzt die Corona-Jahre gezeigt. Eine sehr besondere Form von Wissenschaftskommunikation ist der Science-Thriller, der auf unterhaltsame Weise komplexe Forschung in eine packende Handlung übersetzt. Das ermöglicht Leserinnen und Lesern, sich von wissenschaftlichem Fortschritt und neuen Technologien, die sie vielleicht nur aus den Schlagzeilen kennen, faszinieren zu lassen.
Wie aber verläuft der Weg von einem wissenschaftlichen Thema oder einer Storyidee zu einem spannenden Roman? Wo finden Autoren und Autorinnen ihre Stoffe? Wie geht wissenschaftliche Recherche und deren „Übersetzung“ ins Fiktionale? Und wie gelingt der optimale Mix aus Faktentreue und Erfundenem? Was also darf ein Wissenschaftsthriller?
All diesen Fragen widmet sich diese Werkstatt. In Impulsvorträgen, Gesprächen und praktischen Übungen führen die beiden Seminarleiterinnen darüber hinaus ihre Methoden vor und zeigen, wie eigene Projekte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer vorankommen können.
Nach dem Anmeldeschluss erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Schreibaufgabe. Meine Co-Dozentin ist Susanne Thiele, Mikrobiologin, Sachbuchautorin und Pressesprecherin, mit der zusammen ich “Probe 12” und “Toxin” geschrieben habe.
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Herzlichst,
Eure Kathrin
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Danke Kathrin für die rasche Antwort!
Ich darf nachschenken?
Pervertiert auf die Spitze getrieben wird der Anti-Held einfach nur zum Versager, dessen Geschichte niemand hören will. Dass sich die Heldenreise überlebt hat, könnte damit zusammenhängen: Die eigene Wunde wird als Abbild der allgemein-universelleren Welt-Wunde gesehen. Darum müssen ja Anti-Helden zuerst die Welt retten, damit sie sich selbst retten können.
Meine Vermutung: nach dem Anti-Helden und nach dem (unerzählten) Versager könnte sich die Wechselwirkung wieder umdrehen. Weil der Held sich zuerst und vor allem seiner eigenen Wunde stellt, "passiert" die Welt-Rettung quasi nebenbei.
Krimi als Entwicklungsroman?
Danke für die Anregung!
Danke für den tollen Beitrag!
Spannend die Frage nach der Sichtbarkeit der Wunde der Figur - und eine Hypothese dazu: Die Figur des Anti-Helden "rettet" den Krimi in die Postmoderne.
Die Funktion des Krimis: Selbstvergewisserung. Das moderne Bürgertum findet Bestätigung seines Weltbildes. Eindrücklich in Peter Handkes 'Hausierer' offengelegt: Die Ordnung, wie sie gestört und wiederhergestellt wird.
Warum nun plötzlich ein Anti-Held als Retter dieser Ordnung? Vielleicht, weil er die Erwartungen, die das Publikum an sich selbst hat (haben soll!), unterläuft: Der maximale Kontrast zum selbstoptimierten Alleskönner. Das tröstet. Und zugleich ermahnt die Figur: Die Rettung der eigenen kleinen Welt (Want) ist nur über den Umweg möglich, nämlich über die Rettung der grossen Welt (Need). Ist nicht genau das die Eigenschaft eines Helden? Er tut es, obwohl er es eigentlich nicht kann.