Wohin mit der Herzblutszene?
Literaturwissenschaft vs. Schreibratgeber. Und ein paar Dinge, die ihr vielleicht noch nicht über die Heldenreise wusstet
Hallo, liebe Romanschreibcommunity,
heute erscheint schon die 8. Folge meines Newsletters “Plotten für Chaoten” und ich bin ziemlich überrascht davon, wie schnell unsere Plot-Runde gewachsen ist! Ein herzlicher Dank geht an alle, die hier fleißig mitlesen und besonders an jene, die das Ganze auch noch finanziell unterstützen.
Danke auch für eure Mails und PN über die sozialen Medien. Ich hoffe, ich habe jede einzelne davon zufriedenstellend beantwortet.
In einigen Nachrichten, die mich erreichten, klang durch, dass die Inhalte der Newsletter so dicht und so voller Informationen und Anregungen sind, dass man Zeit braucht, um sie auführlich zu lesen, und sie sich öfter im Postfach stauen. Ich habe mich aus diesem Grund entschlossen, den wöchentlichen Erscheinungsturnus auf zwei Wochen zu verlängern. Falls ihr euch also gewundert habt, warum letzten Donnerstag keine Mail von mir kam – dies ist der Grund.
Und noch einen anderen gibt es: Ich bin zur Zeit relativ viel auf Lesereise. Manchmal treffe ich dabei Kolleginnen und Kollegen und freue mich dann sehr über den Austausch unter Schreibenden. Falls ihr wissen wollt, ob ich demnächst in Eure Nähe komme, könnt ihr euch hier (Wattenmeerreihe) und hier (Science-Thriller) informieren. Vielleicht sieht man sich ja irgendwo, irgendwann persönlich und vielleicht ja schon in wenigen Wochen.
Seminarpläne
Aktuell plane ich ein Tagesseminar “Plotten für Chaoten”, das voraussichtlich im September in Frankfurt/M. stattfinden wird. Mehr Infos dazu folgen bald. Vielleicht seht ihr ja dann auch bald so aus:
Müde und glücklich. Der Plot steht! (Danke an Sabine Hinterberger, die mir erlaubt hat, dieses Foto zu veröffentlichen. Es stammt aus den mittlerweile legendären Seminaren im Literaturhotel Franzosenhol in Iserlohn, auf denen ich meine Methode erstmals in der Praxis des Unterrichts ausprobieren durfte.)
Wohin mit der Herzblutszene?
Das ist die Frage, die mir am häufigsten gestellt wird, wenn ich meine Methode inklusive “Nach vorne plotten” und “Nach hinten plotten” vorgestellt habe. (Wer noch einmal zurücklesen möchte, dies war die Ausgabe, in der es darum ging.) Um die Frage nach der Stellung der Herzblutszene im Manuskript zu beantworten, müssen wir uns zuerst einmal ein bisschen mit sogenannten Romanstrukturen beschäftigen, auch Plotstrukturen oder Plotmodelle genannt.
Ich vermute, den meisten sind Begriffe wie “Drei-Akt-Struktur” oder “Heldenreise” schon einmal begegnet. Die Drei-Akt-Struktur (oft auch Drei-Akt-Modell genannt) lasse ich an dieser Stelle einmal außenvor, den genaugenommen ist dies die Form des Dramas, hat also eigentlich nichts mit dem Schreiben von Romanen zu tun. Nichtsdestotrotz eignet sich die Drei-Akt-Struktur natürlich auch, um die Story eines Romans zu strukturieren. Es spricht überhaupt nichts dagegen, sich ihrer zu bedienen, und ich empfehle sie sogar manchmal Menschen, die mit der Heldenreise Probleme haben, weil sie ihnen zu fantasylastig erscheint. Dass sie das nicht ist und dass sie sich vor allem für unsere Fragestellung – wohin mit der Herzblutszene? – ziemlich gut eignet, wird vielleicht nach dem Folgenden klar.
Beginnen wir mit einer kurzen Einführung. Was ist die Heldenreise und wie ist sie entstanden?
Die Heldenreise
Joseph Campbell
Joseph Campell war U.S.-amerikanischer Publizist, er studierte u.a. Literaturwissenschaften am Dartmouth College und veröffentlichte 1949 sein bekanntestes Werk: “Der Heros in tausend Gestalten”, in dem er unzählige Mythen der Weltgeschichte untersuchte und daraus die sogenannte “Reise des Helden” destillierte. Kurz gesagt, war Campbell der Meinung, dass jede große Erzählung der Weltgeschichte nach einem bestimmten Muster abläuft.
Dessen Aufbau sieht im Detail so aus.
Kapitel: Aufbruch
Berufung
Weigerung
Übernatürliche Hilfe
Überschreiten der ersten Schwelle
Bauch des Walfischs
Kapitel: Initiation
Weg der Prüfungen
Begegnung mit der Göttin
Das Weib als Verführerin
Versöhnung mit dem Vater
Apotheose
Endgültige Segnung
Kapitel: Rückkehr
Verweigerung der Rückkehr
Magische Flucht
Rettung von außen
Rückkehr über die Schwelle
Herr der zwei Welten
Freiheit zum Leben
(Entnommen aus: Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten. Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1999. Eine Neuauflage des Werkes kann hier bestellt werden.)
Doch Vorsicht!
Campbells Werk ist keine Anleitung zum Schreiben, sondern ein Werkzeug der Literaturwissenschaft, also eines zur Analyse von Texten. “Der Heros in tausend Gestalten” gilt als eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts, auch wenn es heute auch einige kritische Stimmen dazu gibt. So sagt z.B. Kirsten Dietrich, Kulturjournalistin, 2017 in Deutschlandradio Kultur: “Das Konzept des Mythenforschers Joseph Campbell lässt sich in vielem kritisieren: er mischt unterschiedslos Erzählungen aller Art, aller Zeiten und aller Kulturen zusammen. Er ist in seiner klassisch tiefenpsychologischen Ausrichtung hemmungslos blind für weibliche Lebensrealität.” Ich stimme mit ihr überein: Das Frauenbild darin bedarf heute mit Sicherheit einer zeitlichen Einordnung.
Den gesamten Beitrag von Kirsten Dietrich über die Heldenreise sowie über Fantasy und seine Erfolge in unseren Zeiten kann man hier lesen. Er lohnt sich, finde ich.
Wer darüber hinaus noch mehr über Joseph Campbell und die Heldenreise erfahren möchte, sei auf eine sechsteilige TV-Serie verwiesen, Joseph Campbell and the Power of the Myth, die man sich auf Youtube ansehen kann.
Nicht nur Musiklegenden wie Bob Dylan oder Jim Morrison berufen sich in ihren Werken auf Campell, sondern auch Filmemacher wie Stephen Spielberg und – besonders – George Lucas. (Die oben genannte Serie wurde zum Teil auf Lucas’ Skywalker-Ranch gedreht.)
An dieser Stelle kommt Christopher Vogler ins Spiel.
Christopher Vogler
Vogler hat mit Filmen ähnliches gemacht wie Campbell mit den Mythen: Er hat die großen Blockbuster des 20. Jahrhunderts auf ihre Strukturen hin untersucht, und er kommt, genau wie Campbell, auf eine überaus erfolgreiche Struktur: die Heldenreise. Sein Werk ist ähnlich einflussreich geworden wie Campbells Original. Es heißt “Die Odyssee des Drehbuchschreibers”. (Die deutsche Originalausgabe ist nicht mehr lieferbar, darum habe ich die 2010 neu aufgelegte Ausgabe vom Autorenhaus-Verlag verlinkt, die einen leicht abgeänderten Titel hat.)
“Die Odyssee des Drehbuchschreibers” ist also ausdrücklich als Handreichung für Autorinnen* gedacht, und darum eignet es sich für unsere Zwecke sehr viel besser als Campbells Buch.
Schauen wir uns erst einmal die Struktur an, die Vogler destilliert hat:
Erster Akt
Gewohnte Welt
Ruf des Abenteuers
Weigerung
Begegnung mit dem Mentor
Überschreiten der 1. Schwelle
Zweiter Akt
Bewährungsproben
Verbündete, Feinde
Vordringen zur tiefsten Höhle/zum empfindlichsten Kern
Entscheidende Prüfung (Feuerprobe)
Belohnung
Dritter Akt
Rückweg
Auferstehung
Rückkehr mit dem Elixier
(Entnommen aus: Christopher Vogler, Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Zweitausendeins 1997.)
Vogler erklärt diese Struktur in seinem Buch anhand von “StarWars. Episode 4”.
Ich erläutere es einmal am “Herrn der Ringe”. Wer Lust hat, kann die Folie auch auf “Harry Potter” legen oder auf die biblische Geschichte von Jona und dem Wal. Es ist verblüffend, wie eng sich viele Geschichten an die Heldenreisenstruktur halten.
Erster Akt
Gewohnte Welt: Frodo im Auenland; Bilbos Geburtstag
Ruf des Abenteuers: Eigentlich möchte Frodo ähnliche Abenteuer erleben wie Bilbo. Allein:
Weigerung: Er zögert. (Hier wird deutlich, dass die Weigerung auch ein inneres oder äußeres Hindernis sein kann. In “StarWars VI” z.B. sind Luke Skywalkers Onkel und Tante das Hindernis, das Luke davon abhält, den Planeten zu verlassen.)
Begegnung mit dem Mentor: Gandalf kommt, der Eine Ring ist eine Gefahr und muss vernichtet werden
Überschreiten der 1. Schwelle: Gasthaus zum Tänzelnden Pony. Verlassen des Auenlandes
Zweiter Akt
Bewährungsproben: Auftauchen der schwarzen Reiter, Flucht
Verbündete, Feinde: Die Gefährten; Aragorn, Legolas, Boromir (der zeigt: aus Gefährten können auch Feinde werden), Orks verfolgen die Gruppe, Pippin und Merry und die Ents …
Vordringen zur tiefsten Höhle/zum empfindlichsten Kern: Moria und der Balroc / Kankras Lauer / Oder auch: Mordor (? – s. dazu gleich unten)
Entscheidende Prüfung (Feuerprobe): Der Ring wird vernichtet. Gollums Rolle dabei
Belohnung: Sams Freundschaft wird zu Frodos wertvollstem Schatz; die Welt ist gerettet
Dritter Akt
Rückweg: Heimkehr ins Auenland
Auferstehung: Frodo ist ein anderer, er verlässt Mittelerde und
Rückkehr mit dem Elixier: weil er sich inzwischen mehr als Elb fühlt denn als Hobbit, macht er sich auf über die Grauen Anfurten (Sterbemetapher?)
An den verschiedenen Möglichkeiten bei Punkt 3 vom zweiten Akt wird deutlich, wie wandelbar die Heldenreise trotz ihrer eigentlich doch genau vorgegebenen Punkte ist. Tolkien lässt Frodo hier einige Stationen der Heldenreise sozusagen mehrmals durchlaufen, was in meinen Augen sehr schön zeigt, dass man dieses Modell natürlich variieren kann. Sich sklavisch daran zu halten, wäre vermutlich der sicherste Weg, einen schematischen Roman zu schreiben. Und das will ja nun wirklich keiner.
Campell vs. Vogler
Vergleichen wir die beiden Modelle von Campbell und Vogler miteinander, so fallen die Unterschiede besonders Ende des zweiten und im gesamten dritten Akt auf. Erinnern wir uns nochmal: Literaturwissenschaftliche Werke sind keine Schreibratgeber!
Genau hier haben wir aber den Grund für die Verwirrung, die einen ergreifen kann, wenn man versucht, die Heldenreise im Internet zu recherchieren. Ich bin dabei tatsächlich immer wieder auf Schreibratgeberseiten gestoßen, in denen beide Methoden fröhlich vermischt werden und dann natürlich nicht mehr funktionieren. Immerhin: Der Wikipedia-Artikel zur Heldenreise, der früher ähnlich verwirrend war und vor dem ich bis vor kurzem noch ebenfalls warnte, wurde mittlerweile überarbeitet. Inzwischen bietet er einen recht guten Überblick in die verschiedenen Versionen. Einen Blick hineinzuwerfen, lohnt sich also auf jeden Fall. In ihm gibt es nämlich auch noch ein paar gute Erklärungen speziell für die bei Vogler doch recht karg anmutenden Punkte im dritten Akt.
Heldenreise meets Herzblutszene
Wenn wir uns die Heldenreise anschauen, fällt auf, dass besonders eine Stelle die stärkste Emotion, man könnte auch sagen, die größte Fallhöhe für die Protas enthält. Ihr Name allein verrät es schon: Es ist das Vordringen zur tiefsten Höhle/zum empfindlichsten Kern und die anschließende Prüfung (die Feuerprobe). Nachdem Vogler sein Buch veröffentlicht hatte, wurde es in den USA unter anderem auch von Psychologen und Life-Coaches verwendet, die anhand der Heldenreise versuchten, ihren Klientinnen* bei der Bewältigung von Lebenskrisen zu helfen. Auf diesem Wege schlich sich dabei ein Begriff aus der Populärpsychologie in die Struktur der Heldenreise: “die dunkle Nacht der Seele” statt “die tiefste Höhle”. Obwohl wir ja eigentlich Roman schreiben wollen und keine Psychotherapie machen, finde ich doch die Bezeichnung “dunkle Nacht der Seele” für das, was Vogler die “tiefste Höhle” nennt, sehr passend. Ich verwende sie in meinen Seminaren ziemlich gern, und das vor allem aus einem Grund: “Die dunkle Nacht der Seele”, das sagt allein schon aus, welche Wichtigkeit diese Szene hat. Es ist jene Szene, in der die Protas sich am tiefsten und gefährlichsten Punkt ihrer Geschichte befinden, in der “entweder alles aus ist, oder man am Ende siegt”. Es ist die Szene, die die höchste emotionale Fallhöhe für die Hauptfigur besitzt. Alles scheint vergebens. Es gibt keinen Ausweg. Ab jetzt heißt es nur noch: Siegen oder sterben.
All das formuliere ich natürlich bewusst zugespitzt. Nicht in jedem Roman geht es schließlich um Leben und Tod, in einem humorvollen Liebesroman schon einmal gar nicht, auch wenn sich das Verlassenwerden vom geliebten Menschen für die Protas natürlich so anfühlen sollte. Aber wenn wir die Heldenreise als innere Entwicklung unserer Hauptfigur begreifen, dann erkennen wir, dass die “dunkle Nacht der Seele”-Szene vor allem eines ist: die Schlüsselszene des Romans.
Der wesentliche Wendepunkt.
Ihr ahnt es vermutlich bereits: In sehr, sehr vielen Romanprojekten, mit denen ich zu tun habe, gehört die Herzblutszene genau an diese Stelle des Romans! Auf jeden Fall lohnt es sich in meinen Augen sehr, sie zu Beginn der Arbeit an diese Stelle zu setzen.
Natürlich passiert es öfter einmal, dass Autorinnen* mir sagen: Aber meine Herzblutszene steht doch ganz am Ende! Oder ganz am Anfang! Ich rate in solchen Fällen trotzdem, einfach einmal zu versuchen, die Szene an die Stelle der “dunklen Nacht der Seele” zu setzen. Oft ergibt das einen ganz anderen, neuen Erzählansatz, der Roman verändert seine Struktur dadurch relativ stark. Und ich kenne eigentlich keinen einzigen Fall, in dem es ihm nicht gut getan hat.
Her mit Euren Erfahrungen!
Gehört ihr zu jenen, die die Herzblutszene nicht an der Stelle der Nacht der Seele sehen? Dann schreibt mir doch einmal, wie sich das bei Euch darstellt!
Ich würde mich freuen, vielleicht dem oder der ein oder anderen von euch ein kleines Bisschen weiterhelfen zu können.
Die Adresse: plotten@kathrin-lange.de
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Das nächste Mal …
Die Heldenreise eignet sich nicht nur als Struktur, die die Handlung ordnet und vorantreibt. Es gibt auch Elemente in ihr, die sich für den Figurenbau eignen. Darum wird es dann in der nächsten Ausgabe gehen:
Der Figurenkanon der Heldenreise und wie man ihn zum Plotten nutzen kann.
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