Kleine Vorabbemerkung
All diejenigen, die beim letzten Mal festgestellt haben, dass sie noch keine Herzblutszene haben (oder deren mehrere), oder die mit ihrem Roman noch ganz am Anfang stehen, muss ich an dieser Stelle auf nächste Woche vertrösten. Dort geht es dann um “Die Methode als Kreativmotor”. Bis dahin kann ich euch nur um ein wenig Geduld bitten. Das Folgende sollte aber für euch auch hilfreich sein. Ihr dürft also gern weiterlesen, nein, ihr solltet sogar, denn in der nächsten Ausgabe werde ich auch auf das, was hier steht, zurückgreifen. :)
Von Wolle und Katzen und Plotkarten
Im letzten Newsletter habe ich euch die Herzblutszene vorgestellt und erklärt, warum sie wichtig ist. Heute geht es darum, diese Szene dafür zu nutzen, das Chaos, als das sich der Roman präsentiert, in den Griff zu bekommen. Dazu müssen wir als erstes einmal ein Gefühl für das Chaos selbst bekommen.
Kennt ihr das auch? Der Kopf ist ganz und gar voll mit Ideen für Szenen und Figuren, für Handlungsstränge und Settingselemente, man denkt sich an einem Element entlang und hat dabei das Gefühl, die anderen zu vergessen. Man hat Möglichkeiten über Möglichkeiten: Wenn Figur A das so macht, dann könnte … oder doch besser anders herum …? Und was wäre, wenn …? Mit anderen Worten: Der Roman fühlt sich an wie ein Knäuel Wolle mit dem die Katzen gespielt haben.
Chaotisch eben.
Wenn ich mit einer Story an einem solchen Punkt bin (und das passiert eigentlich bei jedem Roman irgendwann), hilft nur eines: Plotkarten raus, einen großen Tisch freiräumen und anfangen, alles, was da so im Kopf herumschwirrt, aufzuschreiben. Dabei arbeite ich kleinteilig, zerlege die einzelnen Ideen in möglichst winzige Schnipsel. Also nicht: “Anne ist die Tochter von Robert, eines Instrumentenbauers aus Béziers”, sondern auf zwei Karten: “Anne ist Roberts Tochter” und “Robert ist ein Instrumentenbauer aus Béziers”.
“Galien ist der Bruder von Simon de Montfort.”
“Galien = Simon de Montfort?? Figuren verschmelzen?”
“Galien und Simon sind ein Herz und eine Seele.”
“Galien und Simon hassen sich.”
An den letzten beiden Sätzen wird deutlich, dass ich in dieser Phase auch alle Möglichkeiten aufschreibe, alle Abzweigungen, die die Geschichte nehmen könnte. Warum das wichtig ist, wird gleich weiter hinten deutlich. Diese Arbeit ähnelt einem Brainstorming, und sie dauert unterschiedlich lange, je nachdem, wie verwickelt der Plot eines Romans in meinem Kopf bereits ist. Manchmal brauche ich einen Nachmittag, manchmal auch ein ganzes Wochenende. Wichtig dabei ist, dass ich erst aufhöre, wenn ich mein Hirn so richtig “ausgewrungen” habe. Wenn mir partout nichts mehr einfällt, was nicht auf den Karten steht.
Dieser Arbeitsschritt hat einen wichtigen Grund: Das Gehirn kann sich von jetzt an auf die Arbeit des Planens und Strukturierens konzentrieren, statt Energie darauf zu verschwenden, all die vielen verschiedenen Möglichkeiten nur ja nicht zu vergessen. Vergessen geht nicht mehr, denn es steht ja alles aufgeschrieben da. Das entlastet das Gehirn enorm.
Übrigens: Wenn ich mit diesem Brainstorming fertig bin, kann es schonmal sein, dass unser gesamter Familienesstisch, der sich für 20 Leute ausziehen lässt, mit Karten bedeckt ist. Hier ein Beweisfoto:
Das war Work in Progress an meiner Jugendbuchtrilogie “Herz aus Glas”.
Ihr wisst jetzt auch, warum ich einen Hund habe und keine Katze. :)
Der Roman als Steilwand
Ich vergleiche das Schreiben eines Romans gern mit dem Klettern an einer senkrechten Steilwand. Zu Anfang steht der Autor/die Autorin ganz unten am Fuße dieser Wand. Das fertige Manuskript ist der Gipfel, zu dem man mühevoll hinaufklettern muss. Wobei man ab und zu ins Rutschen kommt.
Das erste Kapitel meines ersten Romans, von dem ich in der Ausgabe “Das Chaos im Kopf und auf dem Papier” erzählt habe, ist in diesem Bild der erste Meter, den ich an der Steilwand nach oben gekraxelt bin. Bis Meter 5 oder 6 bin ich gekommen, bevor ich abgerutscht bin und wieder von vorn anfangen musste.
Ein Kletterer, der nicht abrutschen will, schlägt einen Haken in die Wand, die ihm als Sicherung dient. Und genau dieser Haken ist unsere Herzblutszene. Erinnern wir uns an den Autor mit dem verwickelten Roman mit sinkenden Schiffen und diversen Spionagesträngen. Als ich ihm diese eine Szene wegnehmen wollte, drohte er, die Zusammenarbeit aufzukündigen, weil ihm eben diese Szene so wichtig war wie nichts anderes in diesem Roman. Ausgehend von dieser Szene haben wir den dekontruierten Roman dann neu zusammengesetzt. Um in unserem jetzigen Bild zu bleiben: Wir haben den Haken in die Steilwand geschlagen und uns daran festgebunden.
Ein paar Beispiele aus der eigenen Praxis
Hier mal ein paar Beispiele, wie ein “fertiger” Plot bei mir aussieht. Manchmal arbeite ich mit Plotkarten:
Manchmal mit einem Mindmap-Programm (oder dem Planungstool von Papyrus Autor):
In dieser Mindmap, die den gesamten Plot meines Romans “Cherubim” zeigt, beginnt die Story bei der grauen Szene “auf 12 Uhr” und läuft dann im Uhrzeigersinn bis zum Ende ab. Im Folgenden erkläre ich euch, wie sich ein solches Konstrukt aufbaut, und ich tue das wiederum anhand von “Das achte Astrolabium”. Ich habe weiter vorn ja schon erzählt, dass ich bei diesem Buch als allererstes die Herzblutszene im Kopf hatte: Meine Protagonistin (Anne) sollte als Ketzerin angeklagt vor Gericht stehen und der Protagonist des Romans sollte sie verraten, obwohl er weiß, dass sie unschuldig ist. Diese Szene schrieb ich auf einer Plotkarte auf.
Nach vorne plotten
Also Galien verrät Anne. Die Frage, die sich nun stellt, ist simpel. Sie lautet: Warum?
Warum tut er das? Weil er sie vor dem Tod bewahren will und das nur kann, wenn sie in ein Gefängnis gebracht wird, aus dem er einen Fluchtweg kennt. Diese Infos standen irgendwo auf (zwei!) Karten, die ich auf dem Tisch liegen hatte. Sie wanderten vor die Herzblutszene.
Dann folgt erneut die Frage “Warum?”, in diesem Fall, Warum kennt er den Fluchtweg? Weil er selbst bereits in diesem Gefängnis saß. Die entsprechende Karte aus dem Chaos wanderte vor die Karte von eben.
Ihr ahnt, wie es weitergeht. Warum saß er selbst bereits im Gefängnis? Weil sein Bruder ihn dort hat einsperren lassen.
Hier seht ihr jetzt, dass sich etliche meiner Chaos-Karten von vorne sozusagen von selbst erledigt haben. Die Karten
“Galien = Simon de Montfort?? Figuren verschmelzen?”
“Galien und Simon sind ein Herz und eine Seele.”
passen nicht in diesen Plot. Es bleibt:
“Galien und Simon hassen sich.”
Die beiden nicht benutzten Variationen der Story wandern auf den Ablagestapel. Aus manchen mache ich eine neue Story, manche taugen dazu nicht, sie landen anschließend im Papierkorb.
Dieses Spielchen des ständigen Warum-Fragens setze ich nun fort, bis ich am Anfang des Romans angekommen bin, ich plotte also nach vorne. Woher ich weiß, dass der Anfang erreicht ist?, werde ich im Seminar oft an dieser Stelle gefragt. In den allermeisten Fällen spürt man das, ist eine etwas unbefriedigende Antwort, aber eine bessere habe ich leider nicht. (Außer vielleicht den, dass ein Schreib-Buddy helfen kann. Das gehört jedoch nicht hier hin, sondern in einen anderen Komplex, nämlich der Frage danach, wie man es schafft, einen Roman am Ende auch fertigzuschreiben.)
Nach hinten plotten
Wenn wir am Anfang des Romans angekommen sind, geht es in die andere Richtung weiter. Wir plotten nach hinten. Im Grunde ist die Technik genau die gleiche, nur dass die Frage eine andere ist. Sie lautet jetzt nämlich “Was passiert dann?” Ich drösele das diesmal nicht in einzelne Folien auf, sondern liefere nur das Endbild. Es sollte deutlich machen, wie das Ganze funktioniert. Wie man sich vorstellen kann, werden auch in dieser Phase der Arbeit die einen Karten in den Plot eingefügt und andere werden verworfen. Das Ganze geht dann so lange, bis alles ungefähr so aussieht, wie oben die Mindmap-Variante von meinem Roman “Cherubim”.
Eine eherne Regel
Ich bin überhaupt kein Fan davon, Schreibenden Regeln vorzusetzen, denn schließlich machen wir hier Literatur und keine Mathematik. Aber diese eine Regel braucht es dann doch, und mehr noch: Sie ist für die Methode extrem wichtig. Sie lautet:
Wenn sie einmal festgelegt ist, steht die Herzblutszene nicht mehr zur Debatte!
Ein Kletterer zieht schließlich den Sicherungshaken auch nicht aus dem Fels, wenn er erst auf halber Höhe der Steilwand ist, oder?
Wenn ihr mit der Herzblutszene als Anker arbeitet, bietet euch das darüber hinaus noch einen anderen unschätzbaren Vorteil. Ziemlich sicher werdet ihr beim Beiseitelegen mancher Karten nämlich hadern. “Könnte man das Element nicht doch irgendwo unterbringen?”, fragt man sich dann gern. Wenn ihr eine Herzblutszene habt, dann gibt sie euch die Gelegenheit, alles andere an ihr zu gewichten. “Ja, man könnte das Element reinnehmen, aber dann fliegt eben die Herzblutszene raus.” Und da die ja das Herzstück ist, das Allerwichtigste für euch, fällt es leichter, die entsprechende Karte dann eben doch zur Seite zu legen. (Kleiner Tipp: Man muss nichts komplett wegwerfen. Aus manchen Dingen lassen sich sehr gut neue Plots und Storys entwickeln. Sich das immer wieder vor Augen zu führen, hilft ebenfalls dabei, sich von Storydetails, die nicht passen, zu verabschieden.
Das nächste Mal …
Heute ging es um die Methode als Mittel gegen das Chaos. In der nächsten Woche lernt ihr Die Methode als Kreativmotor kennen, was helfen kann, einen Roman überhaupt erstmal “in Gang” zu bringen. Auch das werde ich wieder an einem eigenen Beispiel erklären.
Und im Folgenden geht es die Woche darauf dann darum, wohin man die Herzblutszene am Besten packt, welche Plotmodelle es gibt und wie gut sie sich für die Methode “Plotten für Chaoten” eignen.
Erfolgsgeschichten
An dieser Stelle möchte ich euch ab und an Autorinnen* vorstellen, die ich aus meinen Seminaren kenne, und natürlich auch ihre Bücher. Heute zeige ich euch eine Storysammlung, deren Cover ich einfach unfassbar schön finde:
Das rote Tuch. Eine phantastische Reise durch die Zeit. Von: Esther Brendel, Lisa Feßler, Charlotte Fondraz, Esther Geißlinger, D. O. Hasselmann, Heike Knauber, Kim Skott, Kristin Weber und Claudia Zentgraf.
Die Anthologie wurde auf die Shortlist des Selfpublishing Buchpreises 2022 in der Kategorie "Kurzprosa" nominiert, außerdem auf die Shortlist des Skoutz-Awards 2022 in der Kategorie "Anthologie". Mir gefällt besonders gut, dass die Autorinnen darin sich auch aufgrund eines meiner Seminare zur Gruppe “KommPlot” zusammengefunden haben und ich wünsche ihnen noch lange Spaß an und Erfolg beim Schreiben!
Schreibt mir!
Fragen? Wünsche oder Anregungen? Dann schreibt mir unter plotten@kathrin-lange.de
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Eure Kathrin Lange
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