Liebe Autorinnen und Autoren,
setzt ihr euch im Zug auch lieber neben den jungen Mann mit Dreadlocks, der ein zerlesenes Buch vor sich liegen hat, als neben den Typen im Bankeranzug, der auf seinem Laptop rumhackt? Und verwickelt ihr die Menschen auf dem Sitz neben euch auch gern in Gespräche? Wenn ja, dann habt ihr ein wesentliches Element des romanhaften Figurenbaus schon verstanden: reale Menschen zu beobachten, sich mit ihnen zu unterhalten und so viele individuelle Details wie möglich zu sammeln, ist der erste Schritt hin zu vielschichtigen, interessanten und klischeelosen Romancharakteren.
Bild von Şahin Sezer Dinçer auf Pixabay
Um das Handwerk des Figurenbaus kümmern wir uns in dieser und den nächsten Ausgaben dieses Newsletters.
Schreibtischnews
Ich hoffe, ihr hattet ein schönes Osterfest. Ich durfte am vergangenen Wochenende auch noch Geburtstag feiern, was einer wahren Buchgeschenk-Orgie gleichgekommen ist. Insgesamt zehn (!) Bücher habe ich bekommen, dazu Blumen und Schokolade und einen Gutschein für Cream Tea. Das klingt nach einem genießerischen Frühling bei mir, würde ich sagen. :)
Arbeitstechnisch ackere ich zur Zeit immer noch auf mehreren Baustellen. Das Sachbuch, von dem ich in der vergangenen Ausgabe erzählt habe, wächst langsam aber stetig. Hauptsächlich jedoch kümmere ich mich im Moment um das neue Jugendbuch für den Arena-Verlag. In Absprache mit meinem Verlag habe ich das Setting von Paris nach Oxford verlegt, was bedeutet, ich brauche einen neuen Arbeitstitel. “Back to Paris” passt jetzt nicht mehr.
Literaturzitat
Da 2024 Kafka-Jahr ist, gibt es aus gegebenem Anlass heute ein Kafka-Zitat:
Manchmal ist das Glück am größten, wenn es ganz klein ist. Deshalb würde ich, wenn ich mein Leben aufschreiben müsste, nur Kleinigkeiten notieren.
(Franz Kafka, Tagebuch)
Habt ihr die Serie und den Kinofilm über ihn schon gesehen? Ich bin leider noch nicht dazu gekommen. Ich muss ja schreiben, und außerdem bereite ich gerade ich die nächste Ausgabe des Plotten für Chaoten-Podcasts vor. Diesmal werde ich Julia Dibbern zu Gast haben. Ihr neuer Roman “Unter Wasser ist es still” erscheint am 24.4.24. Ich darf ihn vorab lesen und finde ihn ganz wunderbar. Mehr dazu dann in der nächsten Ausgabe von “Plotten für Chaoten. Der Podcast”.
Termine
Das nächste Online-Communitytreffen findet statt am 18. April um 19 Uhr. Ich würde mit euch gern eine Übungseinheit zum Thema “Erst lesen, dann schreiben” (s. dazu gleich unten mehr) machen.
Das nächste Online-Tagesseminar “Plotten für Chaoten” findet statt am 27. Juli von 9 bis 17 Uhr.
Und auf mehrfachen Wunsch gibt es im Herbst noch ein weiteres Online-Tagesseminar, dieses dann zum Figurenbau. Den Termin gebe ich hier demnächst bekannt.
Zugang zu allen diesen Veranstaltungen gibt es kostenlos mit einem Paid-Abo. Noch kein Paid-Abo? Dann schnell hier upgraden. Es gibt noch einige weitere Vorteile. :)
Jetzt aber zu unserem heutigen Thema.
Figurenbau
Ihr kennt mittlerweile meine Methode “Erst lesen, dann schreiben”, die meiner Meinung nach eines der wirkungsvollsten Mittel ist, selbst besser im Schreiben zu werden. Schauen wir uns also zunächst einmal den ersten Absatz eines Romans eines wahren Altmeisters an:
Billy Summers sitzt in der Hotelhalle und wartet darauf, abgeholt zu werden. Es ist Freitagnachmittag. Er hat ein Comictaschenbuch aus der Reihe Archie’s Pals ‘n’ Gals aufgeschlagen vor sich, ist in Gedanken aber bei Émile Zola und dessen drittem Roman, mit dem er schließlich den Durchbruch als Autor erziehlt hat.
Das ist der Beginn des Krimis “Billy Summers” von Stephen King. Ein paar Zeilen später geht es so weiter:
Er denkt, dass Zola eine albtraumhafte Version von Charles Dickens war – oder vielmehr ist. Das wäre ein guter Ausgangspunkt für einen Essay, findet er. Nicht dass er je einen geschrieben hätte.
Neben einer ganz und gar schlanken Verortung der Story in Zeit und Raum (“Hotelhalle”, “Freitagnachmittag”) sehen wir einen Menschen mit einem Comictaschenbuch vor der Nase. Dann, im nächsten Satz bereits, geht King vom Außen weg ins Innere der Figur. Wir erfahren, dass Billy sich Gedanken über Émile Zola macht und ihn mit Charles Dickens vergleicht. Ein offensichtlich belesener Protagonist, den wir hier haben. Und offensichtlich jemand, der in alten Zeiten schwelgt – Archie’s Pals ‘n’ Gals war eine Comicserie, die von 1952 bis 1991 herausgegeben wurde, der Roman spielt aber ungefähr in unserer Gegenwart. Darüber hinaus scheint Billy auch noch jemand zu sein, der mit einer gewissen Ironie auf sich selbst schaut: “Nicht dass er je einen geschrieben hätte.”
Aber er würde schon gern einmal einen Essay schreiben …
Der letzte Satz steht da nicht. Er ist beim Lesen dieser wenigen Absätze in meinem Kopf entstanden, obwohl ich zu dem Zeitpunkt noch so gut wie nichts über Billy Summers wusste. Der Rückseitentext des Buches ist mit Formulierungen wie “Schatten der Vergangenheit” oder “das nackte Leben und den bitteren Tod” verblüffend blumig und nichtssagend für ein Buch von Stephen King, nur aus dem Klappentext geht hervor, dass Billy ein Auftragskiller ist. Trotzdem setzt mein Gehirn aus dem wenigen, das ich über den Protagonisten weiß, sofort einen Menschen zusammen.
Das, was King hier tut, korrespondiert mit einem Beispiel, das ich gern in meinen Seminaren verwende. Darin begegnen wir folgender Figur:
Die Frau war an die siebzig, grauer Rock, Mantel. Tom konnte von seinem Standpunkt aus sehen, dass ihre beigefarbenen Stützstrümpfe Falten schlugen. An der Leine, die sie um das rechte Handgelenk geschlungen hatte, zog sie einen übergewichtigen Mops hinter sich her.
Na? Klischeedetektor angesprungen? Sehr gut.
Ändern wir nur ein Detail, sieht es schon ein wenig anders aus:
Die Frau war an die siebzig, grauer Rock, Mantel. Tom konnte von seinem Standpunkt aus sehen, dass ihre beigefarbenen Stützstrümpfe Falten schlugen. An der Leine, die sie um das rechte Handgelenk geschlungen hatte, zog sie einen übergewichtigen Rottweiler hinter sich her.
Natürlich ist dieses Beispiel plakativ, aber es macht deutlich, worauf ich hinaus will: In diesem zweiten Bild dient der Rottweiler als Störer. Er wirft Fragen auf: Wieso hat eine solche Frau einen solchen Hund? Hat sie ihn sich selbst angeschafft oder vielleicht geerbt? Von ihrem verstorbenen Mann? Hat sie ihn schon länger? Möglicherweise, da er übergewichtig ist. Kann sie ihn festhalten, wenn er einer Katze nachjagt …? Dadurch, dass unser klischeehaftes Bild einer alten Dame mit Hund gestört wird, fängt unser Gehirn bereits an, die Figur mit Leben zu füllen, mit ihrer Hintergrundstory und ihren möglichen, noch folgenden Konflikten.
Ganz ähnlich macht King es: ein belesender Auftragskiller, der Zola kennt? Hier wird eine Erwartung gebrochen, was neugierig auf die Person macht. Gleichzeitig ist natürlich Kings Bild ebenfalls nicht hochoriginell, ich zum Beispiel denke sofort an die sprichwörtliche “Hure mit dem goldenen Herzen”, ein beliebtes Klischee aus den Hochzeiten des historischen Romans Anfang des Jahrtausends, oder den gebildeten Serienmörder, der Bach hört, während er seine Taten begeht. Dennoch schafft King es mit auch einem kleinen Trick, uns mit diesen wenigen Sätzen in den Kopf seiner Figur und damit in die Geschichte zu ziehen: Er verwendet das Präsens, ein “alternatives Erzähltempus”, das durch “die Konkurrenz durch den Film begünstigt” wird, wie Sprachwissenschaftler Benjamin Meisnitzer es ausdrückt.
Und mehr noch: Gleich in seinen ersten Sätzen etabliert King dann auch noch eine Erzählstimme. Die Frage schwebt im Raum: Wer erzählt uns die Geschichte eigentlich?, was zusätzlich für Interesse am Text sorgt.
Ich habe dieses Beispiel ausgewählt, weil es deutlich macht, dass es beim Figurenbau nicht nur um Aussehen, Vorgeschichte und Psychologie einer Figur geht – alles Dinge, zu denen wir in den nächsten Wochen unter dem Stichwort “Drei Dimensionen des Figurenbaus” kommen. Darüber hinaus aber ist Figurenbau eben auch immer auch eng mit dem Bau des Settings, des Plots und auch der Erzählhaltung verknüpft. Oft lässt sich das eine nicht ohne das andere entwickeln, wie wir bald sehen werden.
Aufgabe: Erst lesen, dann schreiben
Lest interessehalber einmal die erste Seite des Mega-Bestsellers “Fourth Wing” von Rebecca Yarros.
Was erfahrt ihr über die Protagonistin Violet? Wie stellt Yarros es dar? Gibt es etwas, das die Autorin behauptet oder wird alles aus der Handlung heraus motiviert? Was erfährt man über das Setting des Romans? Wenn man genau hinliest, ist das tatsächlich eine ganze Menge.
Diese Übung kann man übrigens mit nahezu jedem Buch machen. Nehmt euch der Reihe nach die Bestseller der SPIEGEL-Liste vor – die Leseproben auf Amazon reichen dazu aus. Oder ihr nehmt die bekanntesten Romane der letzten zehn Literaturnobelpreisträger. Oder sämtliche Bücher jener Autor*in, die ihr als euer Vorbild betrachtet. Natürlich könnt ihr in den nächsten Tagen und Wochen auch einfach bei eurer eigenen Lektüre darauf achten, mit welchen Techniken die Figuren dargestellt werden.
(Pst: Habt ihr das literarische Zitat in “Fourth Wing” entdeckt? “Ich bin sowas von am Arsch” ist auch der erste Satz aus “Der Marsianer. Rettet Marc Whatney” von Andy Weir. Ich liebe solche Querbeziehungen!)
Noch eine kleine Praxisübung
Fahrt ihr oft Zug? Dann setzt euch das nächste Mal doch einfach einmal neben die Person, die für euren Roman die interessanteste Figur abgeben könnte. Wie oben schon erwähnt, mache ich das öfter. Und manchmal denke ich, ich hätte für diese Reisen gern einen Sticker: “Bin Schriftstellerin und an Gesprächen interessiert!”
Das nächste Mal
Das nächste Mal befassen wir uns mit dem Handwerklichen des Figurenbaus. Ich stelle euch die drei Dimensionen einer Figur vor. In der Folge soll es dann auch noch einmal explizit um Show, don’t tell gehen, um das Want und das Need einer Figur, ihre Ziele und Ängste. Außerdem wird es Sachbuchtipps geben, die beim Entwerfen interessanter Charaktere helfen, dazu ein paar abstruse, aber durchaus hilfreiche Techniken aus der Esoterik (kein Scherz!), und bei all dem wollen wir auch noch einmal einen Blick auf Erzähltechniken des Figurenbaus werfen. Ich freue mich drauf, ich hoffe, ihr auch.
Buchtipp
Der Slogan “Erst lesen, dann schreiben” ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern er stammt aus einem gleichnamigen Buch, das ich euch sehr ans Herz legen möchte. Die beiden Herausgeber Olaf Kutzmutz und Stephan Porombka lassen darin bekannte Schriftsteller*innen wie Daniel Kehlmann, Robert Gernhard, Marcel Beyer oder Ulrike Draesner und Hanns-Josef Ortheil erläutern, wie sie sich Vorbilder gesucht und an den Texten dieser Autoren schreiben erlernt haben.
Stimmen
Ich freue mich immer sehr darüber, wenn ihr mir schreibt, wie euch mein Newsletter oder meine Seminare gefallen haben. Neulich habe ich folgende Rückmeldung bekommen:
“Deine Worte haben viel in mir bewegt und meine Gedanken in viele neue Richtungen ausgeschickt, um neue Möglichkeiten auszuloten. Dafür nöchte ich mich bei dir in aller Form bedanken. (…) Meine Priorisierung hat sich geändert, und der frische Wind in den Segel, lässt die Tasten nur so fliegen.” (Nadine, Seminarteilnehmerin)
Danke dafür, liebe Nadine!
Ich würde mich freuen, wenn ihr diesen Newsletter an andere Schreibende weiterempfehlt. Das geht ganz einfach über diesen Button. Eure Freundinnen und Bekannten können ihn dann kostenlos lesen.
Danke dafür. Und danke für eure Aufmerksamkeit. Bis zum nächsten Mal. Wir lesen uns!
Herzlichst,
Eure Kathrin
Schreibt mir!
Ich bin sehr interessiert an eurer Meinung zu allen Themen dieser Newsletter-Ausgabe. Schreibt mir, was ihr denkt oder welche Erfahrungen ihr gemacht habt mit meinen Tipps. Ihr erreicht mich jederzeit unter plotten@kathrin-lange.de
Ich freue mich über jede Nachricht.
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